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Süße Blasphemie

Über Ostern habe ich einen Roman angefangen und es hat mich so gefesselt, dass ich 500 wirklich sehr klein geschriebene Seiten innerhalb von drei Tagen gelesen habe.

Heute teile ich eine Geschichte mit Dir, die in diesem Roman – die 40 Geheimnisse der Liebe – von Elif Shafak – auf den Seiten 76-78 steht:

Als Moses einmal allein durch die Berge streifte, sah er in der Ferne einen Schäfer. Der Mann kniete auf dem Boden und hatte die Hände betend zum Himmel erhoben. Moses war sehr erfreut. Doch als er näher kam und das Gebet des Schäfers hörte, verwandelte sich seine Freude in Bestürzung.

„Mein geliebter Gott, ich liebe Dich mehr, als Du wissen kannst. Ich werde alles für Dich tun, sprich nur ein Wort! Selbst wenn Du mich bätest, in Deinem Namen das fetteste Schaf meiner Herde zu schlachten, würde ich es ohne Zögern tun. Dann würdest Du es braten und sein Schwanzfett in deinen Reis geben, um ihn geschmackvoller zu machen.“

Ganz langsam näherte sich Moses dem Schäfer und lauschte angestrengt.

„Und danach würde ich Dir die Füße waschen und Dir die Ohren putzen und Dir die Läuse entfernen. So sehr liebe ich Dich!“

Als Moses genug gehört hatte, unterbrach er den Schäfer. „Du Unwissender!“, schrie er. „Was bildest du dir ein? Glaubst du, Gott isst Reis? Glaubst du, Gott hat Füße, die du waschen könntest? Das ist kein Gebet, das ist reine Blasphemie!“

Verwirrt und beschämt entschuldigte sich der Schäfer vielmals und versprach, künftig so zu beten, wie die anständigen Leute. Moses brachte ihm an diesem Nachmittag mehrere Gebete bei. Dann ging er, sehr mit sich zufrieden weiter.

Doch in der Nacht hörte er eine Stimme. Es war die Stimme Gottes.

„Ach, Moses, was hast du getan? Du hast den armen Schäfer gescholten und nicht gesehen, wie lieb er mir war. Er sagt vielleicht nicht das Richtige und nicht auf die richtige Weise, aber er meint es ehrlich. Sein Herz ist rein, er hatte die besten Absichten. Ich hatte Wohlgefallen an ihm. In deinen Ohren mögen seine Worte wie Blasphemie geklungen haben, aber für mich waren sie – süße Blasphemie.“

Moses sah seinen Fehler sofort ein. Am nächsten Tag ging er frühmorgens zurück in die Berge, um mit dem Schäfer zu sprechen. Und wieder traf er ihn betend an; nur betete er diesmal so, wie es ihm beigebracht worden war. Entschlossen, seine Sache richtig zu machen, stotterte er ganz ohne Begeisterung und Leidenschaft seiner früheren Gebete vor sich hin.

Moses bedauerte, was er ihm angetan hatte, klopfte ihm auf den Rücken und sagte: „Ich habe mich geirrt, mein Freund. Bitte vergib mir. Bete weiterhin nach deiner Art. Das ist in den Augen Gottes viel wertvoller.“

Dem Schäfer verwunderte es, das zu hören, doch umso größer war seine Erleichterung. Aber zu seinen alten Gebeten wollte er nicht mehr zurückkehren. Ebenso wenig befolgte er die formalen Gebete, die Moses ihn gelehrt hatte. Er hatte einen neuen Weg gefunden, um mit Gott zu sprechen, er war erfüllt und beglückt durch seine kindliche Andacht und hatte die frühere Stufe hinter sich gelassen – die Stufe seiner süßen Blasphemie.

Man darf also nie über die Art und Weise urteilen, in der andere mit Gott sprechen. Jedem seine eigene Art, jedem sein eigenes Gebet. Gott nimmt uns nicht beim Wort. Er blickt tief in unsere Herzen. Wichtig sind nicht die Zeremonien und Rituale, wichtig ist nur, ob unser Herz rein genug ist oder nicht.

 

aus dem Roman – die 40 Geheimnisse der Liebe – von Elif Shafak 

 

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